Als
ich klein war ich der festen Überzeugung, alle Menschen wären in
ihrem tiefsten Inneren gut. Die einzigen Bösewichte die ich kannte
waren Charaktere aus dem Kinderfernsehen, die eigentlich auch nur
nach Liebe und Ansehen strebten und entweder zum Ende des Films ihre
moralischen Fehler einsahen und Besserung gelobten oder ihre gerechte
Strafe erhielten, dabei aber immer eine zweite Chance erhielten. Umso
älter man jedoch wird, desto deutlicher wird, was für ein Trugbild
man unterlegen war.
Einerseits ist das Böse nicht immer ersichtlich
(auch wenn uns kunterbunte Kinderwelten uns das weismachen wollen,
indem sie den Bösewicht immer hässlich erscheinen lassen und er/sie
scheinbar nur dunkle, sumpfige Farben tragen darf, während alle
Anderen einem Bonbonglas entstiegen sind), andererseits gibt es auch
Herzen deren Kern nicht aus flüssigem Karamell besteht. Die Welt ist
nicht schwarz und weiß, sondern grau. Woher aber kommt nun das
Dunkle in uns? Wird man böse geboren oder so erzogen? Lionel Shriver
nähert sich dieser Frage vorsichtig mit > Wir müssen über Kevin
reden < an.

Am
18. Mai 1957 erblickte Margaret Ann Shriver in Gastonia ( North
Carolina) das Licht der Welt. Anders als ihren Eltern gefiel ihr ihr
weiblicher Vorname überhaupt nicht, da er nicht zu ihrem wilden
Charakter passen würde und änderte ihn deshalb mit 15 offiziell in
Lionel, einen eigentlich männlichen Namen. Nach ihrem Schulabschluss
machte sie an der Columbia University ihren Bachelor of Arts und
anschließend ihren Master of Fine Arts.
> Wir müssen über
Kevin reden <, erschienen 2003, ist ihr achter Roman und
verschaffte ihr den verdienten Durchbruch, nachdem ihren sieben
vorherigen Romane eher wenig bis keine Anerkennung erhielten. 2005
erhielt Lionel für ihr Werk den Orange Prize for Fiction und
entfachte mit dessen Inhalt einige Kontroversen. Privat lebt sie mit ihrem Mann, dem Jazz-Schlagzeuger Jeff Williams in London.

Eva
Khatchadourian lebt mit ihrem Mann Franklin Plaskett ein Leben lebt,
von dem viele nur träumen. Sie ist eine erfolgreiche
Reisejournalistin, publiziert Reiseführer mit Tipps für den kleinen
Geldbeutel, während er für große Firmen durch die Vereinigten
Staaten fährt um geeignete Locations für deren Werbeannoncen zu
finden. Beide sind Mitte dreißig, wohlhabend, kinderlos und
dementsprechend ungezwungen und frei von Existenzängsten. Eigentlich
geht es ihnen gut, aber irgendwas fehlt Eva. Fremde Länder und das
ständige Reisen haben mittlerweile für sie an Reiz verloren und
zuzusehen wie alle alten Freunde sich nun rührend um ihre Kinder
kümmern anstatt nachts noch um die Häuser zu ziehen macht es nicht
gerade besser.
Als sie Franklin vorschlägt, dass auch sie ein Kind
haben könnten, ist dieser sofort Feuer und Flamme. Zwar plagen Eva
auch einige Zweifel und richtige Muttergefühle kann sie während der
Schwangerschaft nicht aufbauen, aber Franklin dabei zu erleben, wie
dieser in seiner neuen Rolle als Vater aufblüht, zwingt sie, ihm
nichts von ihren Ängsten und Unwohlsein zu erzählen. Das
sie einmal ihren Sohn im Gefängnis besuchen wird kann sie nicht
wissen.
Es
kristallisiert sich für Eva schnell heraus, dass ihr Sohn anders
ist. Er ist körperlich und geistig kerngesund aber dennoch fühlt
sie, dass etwas mit Kevin nicht stimmt. Als Baby schreit er sich die
Seele aus dem Leib, als Kleinkind spricht er dafür kein Wort. Später
erfindet er eine eigene Sprache, die er mit äußerster Vorliebe
benutzt, um seine Mutter nachzuäffen. Seiner Mutter gegenüber gibt
er sich äußert unterkühlt, während er seinem Vater gegenüber
eine übertrieben fröhliche Miene aufsetzt, hinter die nur Eva
blickt. Kevin hat keine Vorlieben, weder Ängste noch Ambitionen.
Als
Eva seine Wasserspritzpistole in einem Wutanfall zerstört, nachdem
er zuvor ihr Arbeitszimmer ruiniert hat, sind seine Augen nicht von
Trauer oder Ärger sondern von Erleichterung erfüllt. Kevin lernt
heimlich und isst nicht in Anwesenheit seiner Eltern. Alles das tut
er um eine Fassade aufrecht zu erhalten, die man nicht attackieren
kann, einfach weil es keine Angriffspunkte gibt, die auf eine
Persönlichkeit zurück zu führen wären. Und wieder beunruhigt
dieser Mangel an Neugierde und Interesse nur Eva während ihr Mann
seinem Sohn einfach neue Spielzeuge kauft oder neue Sportarten mit
ihm ausprobiert. Irgendwas wird man ja wohl finden.
Die
einzige Zeit in der sich Kevin “gehen lässt“ und sein Mauerwerk
bröckelt erlebt Eva, als ihr Sohn für zwei Wochen ernsthaft krank
ist. Er scheint zu schwach um zynisch und kalt seiner Mutter
gegenüber zu treten sondern genießt es richtig, von ihr umsorgt und
gepflegt zu werden. Auch Eva blüht in dieser Zeit auf, da sie denkt,
nun endlich den entschiedenen Draht zu ihrem Kind gefunden zu haben.
Sie beschließt eine bessere, liebevollere Mutter zu werden, da all
ihre Bemühungen nun endlich auf fruchtbaren Boden zu fallen
scheinen.
Er verrät ihr, was er gerne isst und welchen Pyjama er
gerne trägt und als Eva ihm abends im Bett aus Robin Hood
vorliest, kuschelt er sich an sie. Entsprechend ernüchtert muss Eva
feststellen, dass von dieser Wärme nichts übrig geblieben ist, als
Kevin schließlich wieder genesen ist. Er reagiert sogar noch
gereizter auf ihre Annäherungsversuche, da er ihr in einem schwachen
Moment zu viel von sich Preis gegeben hat. Das einzige was aus dieser
Zeit hängen bleibt ist Kevins Vorliebe für das Buch Robin Hood,
in dem er seine einzige erkennbare Leidenschaft entdeckt – das
Bogenschießen.
Die
Jahre vergehen. Kevins Bögen und seine emotionslose Maskerade
wachsen mit ihm, nicht aber irgendwelche Gefühle für seine Eltern
oder seine jüngere Schwester Celia. Aus purer Verzweiflung, dass es
an ihr liegen könnte, beschließt Eva nämlich, dass sie noch ein
Kind haben möchte. Franklin ist davon wenig überzeugt, spricht sich
aber gegen eine Abtreibung aus, als Eva doch schwanger wird. Die
kleine Celia ist ganz anders als ihr Bruder.
Genauer gesagt ist sie
das komplette Gegenteil. Sie zeigt offen ihre Ängste, von denen sie
so viele hat, aber auch ihre Liebe, von der sie viel zu geben hat.
Sie sieht immer das Gute in den Menschen, sogar in ihrem großen
Bruder, der ihr nur Hass und Missgunst entgegen bringt. In ihrer
Tochter findet Eva das Kind, das sie sich immer gewünscht hat,
während Franklin nie wirklich einen Draht zu seiner Tochter aufbaut.
Er hat in seinem Sohn seinen Verbündeten gefunden, da dieser nicht
so sensibel und ängstlich ist wie Celia.
Woher
diese Ängste stammen kann Eva nicht genau ergründen, nur das Kevin
nicht ganz unschuldig daran ist. Als Celias Weihnachtsgeschenk, eine
Kurzohrige Elefantenspitzmaus verschwindet und tags drauf im
Badezimmer der Kinder der Abfluss verstopft ist, ahnt Eva wer
dahinter steckt, stößt damit aber bei ihrem Ehemann nur auf taube
Ohren. Die Situation entartet, als Eva am nächsten Tag zu ihrer
Tochter ins Krankenhaus fahren muss. Das Mädchen hatte Rohrreiniger
ins Auge bekommen, wobei unklar ist, wie sie überhaupt an die
Flasche gekommen ist. Als Eva Kevin dieser Tat verdächtigt, reißt
Franklin der Geduldsfaden. Er will die Scheidung und beide Kinder zu
sich nehmen.
Am
Abend des 8. Aprils 1999, nur ein paar Tage vor Kevins 16.
Geburtstag, erhält Eva einen Anruf, der ihr Leben vollends verändern
wird. An Kevins Highschool wurde ein Amoklauf mit bislang 10 Opfern
verübt. Unwissend, dass ihr eigener Sohn der Amokläufer ist, rast
Eva zur Schule um dort die Türen der Sporthalle mit den gleichen
gelben Fahrradschlössern verschlossen zu sehen, die Kevin sich Tage
zuvor im Internet bestellt hatte.
Seine Opfer sind handverlesen und
nur deswegen zur lebendigen Zielscheibe für seine neue Armbrust
geworden, weil sie etwas liebten. Unter ihnen finden sich ein
begeisterter Sportler, eine ambitionierte Aktivistin, das schönste
Mädchen der Schule und Kevins Englischlehrerin, die unbedingt einen
Draht zu ihrem schwierigsten, aber somit auch liebsten Schüler aufbauen wollte.
Das man sich für
etwas wirklich begeistern kann verachtet Kevin, weil er es nicht
versteht. Er selbst liebt nichts und niemanden. Das Bogenschießen
ist für ihn nur Mittel zum Zweck. Als er von Polizisten unter den
Augen seiner entsetzten Augen seiner Mutter und dem aufgebrachten
Geschrei seiner Mitschüler abgeführt wird, ist er keineswegs
verschüchtert oder sich der Konsequenzen nicht bewusst. Er hat alles
bis ins kleinste Detail geplant und trägt die Verantwortung für
seine grausame Tat wie eine Medaille.
Geschockt
und gebrochen fährt Eva an diesem Abend nach Hause und hofft,
wenigstens im Schoße ihrer Familie halt zu finden. Als sie das Haus
stockdunkel und verlassen vorfindet, wächst ihre Panik. An Kevins
Schießstand findet sie schließlich Celia und Franklin – beide von
Pfeilen durchbohrt und von Kevin für seine Mutter in Szene gesetzt.
Evas
Welt ist in sich zusammengebrochen. Verhandlungen vor Gericht und der
Hass der Bevölkerung, die sie für die Tat ihres Sohnes
mitverantwortlich macht, treiben sie in den finanziellen und
seelischen Ruin. Das Einzige, was ihr geblieben ist, ist ein
brüchiges Häuschen, ein trister Job in einem kleinen Reisebüro bei
dem ihre Kollegen sie bewusst meiden und ihr Sohn, der sie bei den
regelmäßigen Besuchen mit Abscheu empfängt. Die erste Zeit redet
sie gar nicht mit ihm, obwohl er der Einzige ist, der überhaupt noch
mit ihr redet. Später tastet sie sich über flachen Smalltalk an ihn
heran, dem Kevin zynisch abblockt.

Das
einzige Gesprächsthema für das Kevin ein grenzwertiges Interesse
zeigt sind Amokläufe. Er kennt alle Mörder, Waffen und Fehler, die
sie seiner Meinung nach begangen haben. Eva lässt sich auf diese
Schiene widerwillig ein. An seinem “Jahrestag“, wenige Tage vor
seinem 18. Geburtstag bringt sie schließlich den Mut auf, ihren Sohn
zu fragen, was ihn überhaupt zu dieser Tat verleitet hat. Als er
antwortet, dass er das jetzt nicht mehr so genau sagen könnte,
flammt in Eva plötzlich etwas auf, das sie all diese Jahre zuvor
nicht für ihren Sohn empfunden hat. Sie muss sich selbst
eingestehen, dass sie ihren Sohn liebt. Sie weiß nicht, was für ein
Mensch Kevin sein wird, wenn er aus dem Gefängnis entlassen wird,
aber sie hat sich vorbereitet und ein Zimmer für ihn in ihrem
Häuschen eingerichtet. Im Regal liegt bereits die alte Ausgabe von
Robin Hood.
Der
Roman > Wir müssen über Kevin reden < (2003) und dessen
Verfilmung mit Tilda Swinton und Ezra Miller (2011) Zündstoff für
Diskussionen. Lionel Shriver berichtet von allen Geschehnissen aus
Evas Sicht, die in Briefen an ihren verstorbenen Ehemann ihr Herz
ausschüttet und ihm Geheimnisse offenbart, welche früh als
Anzeichen für die Tragödie gewertet werden können. Sie bleibt
allein und verachtet vor einem Scherbenhaufen zurück, der einmal ihr
Leben war. Obwohl Shriver schonungslos über Gefühlskälte zwischen
Mutter und Kind, detaillierten Amokläufen und dem Heranwachsen eines
Psychopathen schreibt, spürt man immer auch ein Spur Hoffnung und
Wärme – sogar für Kevin. Sie weist niemandem die Schuld für
Kevins desaströses Verhalten zu, unterscheidet nicht generell in Gut
und Böse. So öffnet sich Kevin zum Schluss emotional gegenüber
seiner Mutter und bittet sie sogar, Celias Glasauge, dass sie seit
dem Unfall tragen musste, in einem kleinen Sarg, den er extra dafür
angefertigt hat, zu begraben, ohne das die Aktion dabei von ihm als
weiterer Tritt gegen seine am Boden liegende Mutter angedacht ist.
Shriver
gibt auch nicht die ultimative Lösung, wenn man herausfinden möchte,
wie das Böse entsteht und ob man es irgendwie stoppen kann. Eva
bekennt sich zwar dazu, dass sie bei Kevins Erziehung einige Fehler
begannen hat, andererseits zwingt sie sich immer wieder ihm eine
bessere Mutter zu sein und Celia wächst unter ihrer Obhut nicht zu
einem kaltblütigen Monster heran. Wenn das Böse also nicht
anerzogen wird, muss man wohl böse geboren werden, da jeder Fluss
einer Quelle entspringen muss. Physisch wie psychisch lassen sich
dafür bei Kevin im Kindesalter dafür aber keine Anzeichen finden.
Die Gene eines Menschen dafür verantwortlich zu machen wäre
schlussendlich auch auf medizinischer wie moralischer Ebene äußerst
fragwürdig.
Wer also einen Ratgeber zur “richtigen“
Kindererziehung in > Wir müssen über Kevin reden < erwartet
wird wahrscheinlich recht schnell enttäuscht werden. Wer sich aber
nicht vor dem Abstieg in den seelischen Abgrund eines düsteren
Herzens und der Chronologie einer Katastrophe fürchtet, bei dem
werden sowohl Buch als auch Film in guten Händen liegen.
liebst
Ellie